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Samstag, 24. August 2013

Genf boomt. Aber viele können sich das teure Stadtleben nicht leisten.

Revolution im Westen

Genf boomt. Aber viele können sich das teure Stadtleben nicht leisten – und ziehen nach Frankreich. Das hat Konsequenzen. Der Populismus lebt. Szenen eines schwierigen Zusammenlebens Von 
Auch Amalia Jimenez ging rüber. Die Urgenferin, aufgewachsen in Carouge, wollte Platz, einen Garten. »Also mussten wir raus aus der Stadt.« Vor einem Jahr kauften die 39-jährige Architektin und ihr Freund ein Haus in Frankreich. »Es war ein rationaler Entscheid, mein Partner ist Physiker«, sagt Jimenez. »Er nahm eine Karte von Genf und schaute, welches Gebiet am nächsten liegt.« Es war Gaillard, im Südosten der Stadt, fünf Kilometer vom Zentrum entfernt. 11.000 Einwohner, eingewachsen in den Siedlungsbrei der französischen Agglomeration, die den Schweizer Kanton wie eine Krone umgibt. Das Paar erstand ein Häuschen aus den 1930er Jahren. 200 Quadratmeter Wohnfläche, für 500.000 Euro. Eine maison bourgeoise , aus Stein gebaut. Die Sozialwohnungen in der Nachbarschaft drückten den Preis, die tiefen Hypozinsen taten das Übrige. »Das war eine einmalige Möglichkeit.« Dafür hätten sie in der Westschweiz weit fahren müssen. Bis ins Hinterland der Waadt oder gar nach Freiburg im Üechtland. Denn überall am Genferseebogen, dem arc lémanique, explodieren die Immobilienpreise. Nach Frankreich zu gehen sei so einfach gewesen, wie die Gemeinde in der Schweiz zu wechseln. »Ich hatte nie den Eindruck, Genf verlassen zu haben. Das ist doch Kirchturmdenken.«
Jimenez ist eine von 85.000 Grenzgängern, frontaliers genannt, die in Frankreich wohnen und im Kanton Genf arbeiten; 40.000 davon sind Schweizer. Der Kanton, pardon, La République et Canton de Genève, im äußersten Westzipfel der Schweiz bietet 70.000 mehr Jobs, als er Einwohner im berufstätigen Alter hat – bei einer Bevölkerung von 464.000. Und die Gehälter sind doppelt so hoch wie im französischen Umland.
Aber Genf platzt. In den vergangenen Jahren wurden zwar 30.000 neue Arbeitsplätze geschaffen – aber nur 5.000 Wohnungen. Die Leerstandsquote beträgt 0,1 Prozent. Der Kanton ist gebaut.
Die französische Agglomeration leidet unter dem Genfer Boom
Das war mal anders. Noch 1970 wurden jährlich über 6.000 Wohnungen erstellt. Mit riesigen Wohnbauprogrammen reagierte der Staat auf die Hochkonjunktur der Nachkriegszeit. Nach französischem Vorbild entstanden Großsiedlungen wie die Cité de Lignon. Doch bald regte sich Widerstand. Anfang der achtziger Jahre forderten Heimatschutz, Mieterverband und Umweltorganisationen Verdichtung statt Expansion. Die Losung lautete: »Die Stadt in der Stadt bauen«. Hochhäuser sucht man in Genf indes vergebens. Verdichten hieß hier: »Alle Bagger halt!« Denn Genf, das sich gerne als Weltstadt sieht, hat eine Bauernseele. Als einer der ersten Kantone schuf man 1952 eine Landwirtschaftszone, die Hälfte des Kantons ist Agrarland. Diesen Grüngürtel anzutasten, ist ein Tabu über die Parteigrenzen hinweg. Von der naturliebenden Linken bis zu den konservativen Hauseigentümern – die damit den Wert ihrer Liegenschaften im Grünen sichern. Wie fatal diese Blockadepolitik ist, zeigen die Zahlen der Immobilienberatungsfirma Wüest & Partner. Zwischen 1996 und 2010 stiegen die Preise für Eigentumswohnungen um jährlich 6,7 Prozent, hingegen wuchsen die Löhne um bloß 1,3 Prozent.
Unter der Genfer Baumisere leidet auch die Landschaft. Um das zu sehen, fährt man am besten mit der Luftseilbahn auf den Salève, Genfs Hausberg auf französischem Boden. 1.380 Meter über dem Meer. Zu Füßen ein Flickenteppich. Mattgrüne Felder und Wälder, braun die unbestellten Äcker, rostrot die Ziegeldächer der Einfamilienhäuser, und dazwischen schimmern grausilbern die Treibhäuser und Gewerbebauten.
Es herrscht das Agglo-Chaos.
Auch im französischen Städtchen St-Julien-en-Genevois, ein Katzensprung von der Schweizer Grenze. Der Verkehr kriecht. Handwerker, Camions. Berufspendler, viele mit Genfer Nummernschildern. Im Café La Diligence in der schmucken Innenstadt sitzt Antoine Vielliard. Vor zehn Tagen wurde er als Vertreter der Zentrumspartei Mouvement démocrate ins Parlament des Departements Hochsavoyen gewählt. Alle paar Minuten kommt jemand, ihm zu gratulieren. Gleich zu Beginn stellt Vielliard klar: »Ich habe nichts gegen die Schweizer. Aber etwas gegen die Genfer Politik.« Und die hat, seiner Meinung nach, völlig versagt. »Genf ist die einzige Stadt der Welt, deren Agglomeration sich nicht konzentrisch entwickelt. Es hat eine Kernstadt, einen Landgürtel – und im Ausland dann die Vorstadt«, sagt Vielliard. Das sei zwar schön, aber ein Problem. 2.000 Genfer würden jedes Jahr nach Frankreich »gezwungen«, insgesamt verließen 3.500 den Kanton. Die meisten sind zwischen 25 und 45 Jahre alt. »Das ist keine Politik für das Volk.«
Doch was kritisiert er, der französische Abgeordnete, die Schweizer Politik? Die Gemeinden im Umland profitieren von den Genfer Neuzuzügern. Sie bringen Geld, zahlen Steuern, der Immobilienmarkt floriert. Seit 1973 besteht zudem ein Abkommen zwischen Genf und den französischen Nachbarn: 3,5 Prozent der Lohnsumme der Grenzgänger wird rückerstattet. Allein 2010 flossen so 216 Millionen Franken an die französischen Nachbarn. Nur dank Genf haben die französischen Agglo-Gemeinden die Finanzkrise gut überstanden. Und Vielliard ist selbst ein frontalier, er arbeitet beim Konsumgüterkonzern Procter & Gamble in Genf.
»Alles richtig«, sagt Vielliard. Lange habe das Zusammenleben geklappt, heute aber nicht mehr. »Die Genfer, die hierherkommen, lassen die Immobilienpreise steigen. Die Franzosen können sich keine Wohnungen mehr leisten.« Sie müssen weiterziehen, nach Bellegarde, Chambéry oder bis nach Grenoble. Im Altersheim in Annemasse, dem französischen Agglo-Zentrum, nehme man nur 15 statt 75 Pensionäre auf, weil das Pflegepersonal fehlt. »Die arbeiten alle in Genf.« Im Lycée sind sechs Lehrerstellen unbesetzt, weil sich vor Ort niemand mehr eine Wohnung leisten kann. Alle Collège-Lehrer wohnen über vierzig Kilometer entfernt. »Wenn wir so weitermachen, haben wir in der Region bald keine Post, kein Spital, kein Altersheim, keine Schulen mehr«, sagt der Abgeordnete.

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