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Samstag, 24. August 2013

Riche gauche

Genf: Riche gauche | Die Weltwoche, Ausgabe 41/2004

Genf

Riche gauche

Wie verrückt die Welt ist, sieht man sehr schön in Genf: Die fantastisch reichen Einwohner werden von einem Kommunisten regiert, die Wirtschaft boomt, der Grosse Rat pöbelt. Da lächelt der Scheich.
Von Stéphane Bussard
Anfang August herrschte Hochbetrieb in Genf. Die Stadt am Lac Léman, die von einem recht einträglichen Sommertourismus profitiert, kehrte ihren sonst eher versteckten Reichtum hervor. Die Restaurant-Terrassen quollen über von arabischer Kundschaft, die zwar weniger zahlreich war als die letzten Jahre, aber immer noch grossen Geschmack findet an der Genfer Diskretion. Insgesamt werden die Gäste aus den Golfstaaten, die etwa zwölf Prozent der Sommertouristen stellen, dieses Jahr aber weniger Geld in den Kassen des Detailhandels und der Hotellerie zurücklassen. Christian Rey, der Präsident des Genfer Fremdenverkehrsvereins, schätzt den Rückgang auf drei Prozent für die Periode Juli bis August. Die paar Prozentpunkte scheinen vernachlässigbar, doch wenn sie auf die Millionenumsätze umgerechnet werden, stellen sie einen beträchtlichen Verlust dar. Die Zahl der Übernachtungen ging um zehn bis fünfzehn Prozent zurück, ganz besonders in den Genfer Grandhotels. Das ist umso ernüchternder, als in den zwei vorangegangenen Jahren ein richtiger Ansturm der arabischen Kundschaft zu verzeichnen war. Im Jahr 2002 brachte der Schweizer Aufenthalt von König Fahd von Saudi-Arabien und seines dreihundertköpfigen Hofstaates Genfs Wirtschaft spektakuläre Mehreinnahmen: insgesamt fast 100 Millionen Franken.

Auch wenn einige Saudis diesen Sommer lieber in Beirut als in Genf verbrachten, bleiben die Araber sehr präsent am Léman. Mehrere Fünfsternehotels sind im Besitz von Investoren vom Golf. So wurde das berühmte «Hôtel des Bergues» vor zwei Jahren für 120 Millionen von Prinz al-Walid Bin Talal, dem Neffen von König Fahd, gekauft. Mit dem «Intercontinental», wo bei Genfbesuchen meistens die Staatschefs absteigen, wurde ein anderer traditionsreicher Palace das Eigentum von Abdul Aziz al-Suleiman, dem ehemaligen Vizefinanzminister von Saudi-Arabien. Und erst neulich wurde das «Noga Hilton» an einen weiteren Saudi für 300 Millionen verkauft.

Für den Aussenstehenden ist Genf eine vollkommen unverständliche Stadt. Hier leben 20 Milliardäre (in Dollars), was bei einer Bevölkerung von knapp 470000 (Agglomeration Genf) vermutlich weltweit die höchste Dichte an reichen Leuten bedeutet. London bringt es auf 40 – zählt dabei aber rund 7 Millionen Einwohner. Gleichzeitig ist Genf eine sehr linke Stadt – zudem völlig unübersichtlich links. Hier spielt neben der SP die Alliance de gauche aus ehemaligen Kommunisten und anderen linken Dissidenten seit Jahren eine entscheidende Rolle – während die Bürgerlichen sehr effizient über sich herfallen. Mit dem einen Resultat, dass die FDP in Genf bloss noch auf dem Papier besteht. Die Organisation ist praktisch zusammengebrochen.

Schliesslich ist Genf nur zum Teil eine schweizerische Stadt – der grösste amerikanische Klub der Schweiz ist hier beheimatet. Uno, WTO, WEF und zahllose andere internationale Organisationen sorgen dafür, dass die Zahl der sogenannten Expats – hochqualifizierte Fremdarbeiter – konstant hoch bleibt. Genf ist insbesondere bei Uno-Mitarbeitern, die eine Familie haben, sehr beliebt. Während man in jungen Jahren gerne im Hauptsitz am East River in New York arbeitet, lassen sich viele an die Rhone versetzen, wenn es gilt, für die Kinder ein bezahlbares Haus (im nahen Frankreich) und bezahlbare Schulen zu finden. Nicht zuletzt schätzt man die grosse Sicherheit am Genfersee. Doch die internationalen Beamten sind nicht die einzigen erwünschten Ausländer: Insbesondere für die Araber war Genf für Jahrzehnte die erste Adresse in Europa. Hier unterhielt man ein opulentes zweites Heim, genoss die Freuden der westlichen Zivilisation, um nachher erholt in die sittenstrenge Heimat zurückzukehren.

1000 Milliarden in einer Stadt
In der jüngsten Vergangenheit scheint sich aber das Verhältnis der Scheichs zu Genf verändert zu haben. Zwar kaufen sie sich vermehrt das eine oder andere Hotel, gleichzeitig beobachtet man in Genf – mit einer widersprüchlichen Mischung von Erleichterung und Sorge –, dass sich die Reichen aus dem Nahen Osten selbst immer weniger in Genf zeigen. Die Kundschaft aus dieser Weltgegend hat lange sehr enge Beziehungen mit den Genfer Banken gepflegt, doch seit dem 11. September 2001 hat sie der Rhonestadt grösstenteils den Rücken gekehrt und ist nach Dubai oder Bahrain abgewandert.

Dieses Fernbleiben konnte dem Ruf des Genfer Finanzplatzes jedoch nichts anhaben. Noch immer liegen 1000 Milliarden Franken, das heisst ein Drittel der in der Schweiz verwalteten Gelder, auf Genfer Banken. Da die UBS und die Credit Suisse einen Grossteil ihrer Geschäfte in Zürich konzentriert haben, tritt Genf noch stärker als Mekka des Private Banking auf, denn hier sind die beiden grössten Privatbanken des Landes ansässig. Pictet und Lombard Odier Darier Hentsch sind beide zweihundert Jahre alt und verwalten Gelder in der Höhe von 120 respektive 100 Milliarden Franken. Daher überrascht es nicht, dass der Genfer Pierre Mirabaud Präsident der Schweizerischen Bankiervereinigung ist. Oder dass die Genfer Bankenkreise zu den glühendsten Verfechtern des Bankgeheimnisses geworden sind.

Der Banken- und Finanzsektor, der mehr als 30000 Personen beschäftigt, umfasst 130 Banken, 1700 Finanzgesellschaften und 550 Vermögensverwalter. Er ist ein Hauptpfeiler der Finanzierung der Republik Genf. Man weiss, dass Privatbankiers juristisch als natürliche Personen gelten, was sich mit einer Zahl veranschaulichen lässt: 377 Genfer, deren steuerbares Einkommen über einer Million Franken liegt, erbringen 17,2 Prozent der gesamten Steuereinnahmen, die bei natürlichen Personen erhoben werden.

Unbehagen im Schlupfloch
In den Jahren, in denen an der Börse Euphorie herrschte (1999 bis 2001), liess sich Genfs Wohlstand am Verhalten der jungen Banker ablesen, die weniger streng und calvinistisch sind als ihre Vorfahren. Daher wurde der Audi TT zum Symbol des erfolgreichen Jungbankers schlechthin: ein teurer Sportwagen mit lässigem Look und ohne Komplex. Als aber die Krise über die Finanzmärkte hereinbrach und die Banken mehrere hundert Leute entliessen, wechselten die jungen Banker vom schönen TT zum Mini Cooper S, der immer noch schick genug ist.

Ungeachtet des konjunkturellen Auf und Ab bleibt offensichtlich: Genf ist reich. Dazu muss man sich bloss die vielen Millionäre, die am Seebecken wohnen, vor Augen halten. Ein paar Daten: 1260 Ansässige geben ein steuerbares Vermögen von mehr als fünf Millionen Franken an, 1088 eines zwischen drei und fünf Millionen Franken, und 5490 Personen verfügen über ein steuerbares Vermögen zwischen einer Million und drei Millionen Franken.

Trotz anderslautender Rhetorik: Selbst Linke sind sich bewusst, wie wichtig die Reichen für Genf sind. Und kaum jemandem käme es in den Sinn, die Reichen (noch mehr) belasten zu wollen. Für manche gelten die Steuern sogar als sehr vorteilhaft: Französische Tennischampions suchten als Erste die gediegene Ruhe des Genfersees auf, auch wegen der freundlichen Steuerbehörden, die für sie gerne ein Steuerabkommen aushandeln. Die Nummer eins im Frauentennis, Amélie Mauresmo, hat sich in Genf niedergelassen. Genauso wie ihre Landsleute Arnaud Clément, Guy Forget, Henri Leconte und Fabrice Santoro. Mehrere Persönlichkeiten aus dem französischen Showbusiness haben den Reiz Genfs ebenso entdeckt. In sicherer Distanz zum glitzernden und hektischen Betrieb der Metropole Paris können sie sich hier sicher fühlen vor den Medien, den Groupies und Fans, die sie in Paris dauernd belästigen. Der Sänger Charles Aznavour zum Beispiel hat den Journalisten schon einmal erklärt, warum es ihn an den Genfersee gezogen hat: «Die Luft ist rein, die Umgebung herrlich, und man kann hier ein unauffälliges Leben führen.» Was Genf für ihn ist? Ein Paris in der Provinz. Die Schauspieler Alain Delon – er hat 1999 die Schweizer Staatsbürgerschaft erhalten – und Isabelle Adjani vervollständigen das Bild eines internationalen Genf: Sie glänzen auf den Bühnen und Bildschirmen Frankreichs und erholen und verkriechen sich dann in der Genfer Diskretion.

Doch trotz der Prachtentfaltung der Fêtes de Genève, die wie jeden August in einem Feuerwerk gipfelten, trotz der scheinbaren Unbeschwertheit, trotz der Fassade des satten Wohlstandes in einem Kanton mit einem bestens entwickelten Dienstleistungssektor – trotz alledem: Im Stadtstaat am Ende des Sees breitet sich der Missmut aus. Es gibt dafür mehrere Gründe. Erstens die Krise innerhalb einiger politischer Parteien. Zweitens der Unwille, den Genfer Realitäten ins Gesicht zu sehen. Wer in Genf wohnt, hat weiterhin nicht den Eindruck, an einem besonders schlecht gestellten Ort zu leben. Mit seinem bedeutenden Banken- und Finanzsektor bleibt der Kanton wohlhabend trotz der sieben Prozent Arbeitslosen, die ihm in dieser Statistik den schweizerischen Spitzenplatz sichern. Dennoch: Zahlreiche Indikatoren lassen eine Verschlechterung des politischen Klimas befürchten. Das Genfer Unbehagen – worin immer es auch begründet sein mag – droht sich in eine ernste und dauerhafte Krise der Institutionen zu verwandeln.

Verbale Entgleisungen
Eine gute Illustration dafür liefert die Funktionsweise des Grossen Rates, der kantonalen Legislative. «Das Gremium konzentriert sich aufs Nebensächliche, weil es die wichtigen Dinge nicht mehr an die Hand nehmen kann», meint Pierre Maudet, der Vizepräsident des Genfer Parti radical. Obwohl sich die unbehandelten Geschäfte anstauen, hat die kantonale Legislativbehörde bis zu diesem Frühjahr nicht gezögert, mehrere Stunden der jeweils ersten Sitzung für dringende mündliche Anfragen zu reservieren. Das Resultat war die schlichte Logorrhö. Mit manchmal denkwürdigen Séancen. So haben sich die Volksvertreter am 25. April 2002 über drei Stunden mit 35 Interpellationen beschäftigt. Die Themen waren von den unmittelbaren Sorgen des Genfer Bürgers gelegentlich ziemlich weit entfernt. Es ging zum Beispiel darum, ob Henry Kissinger als ehemaliger Berater von Präsident Nixon zur Persona non grata erklärt werden solle. Oder ob man im Guardian, in der Seattle Times und in Le Monde einen «Appell an die Bürger der Welt» lancieren soll, um sich den Versuchen zum Ausbau der WTO entgegenzustellen. Heute ist die mündliche Interpellation zwar abgeschafft worden, doch die Volksvertreter haben bereits Wege gefunden, das Disziplinierungsmittel zu unterlaufen. Sie stellen jetzt regelmässig Dringlichkeitsanträge, um die als zu einschränkend empfundene Tagesordnung auf den Kopf zu stellen.

Die Länge der Grenze, die Genf mit Frankreich teilt, beträgt 103 Kilometer, diejenige mit dem Waadtland 4,5 Kilometer. Angesichts dieser Tatsache geben selbst die Kantonsräte zu, dass die Redekunst der Grande Nation nicht ohne Einfluss auf die Politiker bleibt. Am Lac Léman spielen grosse Worte eine dominierende Rolle. Sie sind ein probates Mittel, politisch wahrgenommen zu werden. Man kann sich davon überzeugen, wenn man den Sitzungen des Grossen Rates beiwohnt. Verbale Entgleisungen stehen auf der Tagesordnung und dürften auf die Zuschauer des lokalen Fernsehsenders Léman Bleu einen eher desillusionierenden Effekt haben. «Korrupt», «Halt die Klappe», «Lügner»: Alle Register werden gezogen.

Ein Kommunist regiert
Zur kulturellen Nähe mit Frankreich kommt eine Polarisierung der Genfer Parteienlandschaft, die stärker ist als in anderen Kantonen. Obschon die extreme Linke (Alliance de gauche) sechs Sitze verloren hat und nur noch dreizehn der hundert Mitglieder des Grossen Rates stellt, bleibt sie entschlossen, eine Politik des Bruchs mit den offiziellen Institutionen zu betreiben, selbst wenn sie dafür in manchen Fällen mit der UDC (Westschweizer SVP) stimmen muss. Trotz schwindenden Wähleranteils gelingt es ihr immer noch, die Sozialdemokraten in eine Nebenrolle abzudrängen, obwohl Letztere bei den jüngsten nationalen Wahlen zur zahlenmässig stärksten Genfer Partei geworden sind. Als tonangebend erscheinen schon eher die Grünen, die in den letzten Jahren kontinuierlich zulegen konnten.

Die Stadt Genf ist zwar ein Wirtschaftsplatz, aber sie besitzt weiterhin eine starke Verankerung im linken Spektrum, dem vier von fünf Regierungsmitgliedern angehören. Die Linksausrichtung der Genfer Stadtbewohner ermöglicht es der Exekutive, ohne Schwierigkeiten wiedergewählt zu werden – auch wenn ihr Leistungsausweis ziemlich dubios ist: Im Jahr 2002 wurde der Stadtrat André Hediger das vierte Mal zum Bürgermeister von Genf gewählt. Als der kommunistische Politiker Präsident der Betriebsgesellschaft des Genfer Kasinos war, wurde der Antrag auf eine eidgenössische Konzession so schlecht vorbereitet, dass Genf seinen Glücksspieltempel schliessen musste. Nicht ganz unbegründet: André Hediger hatte es leider versäumt, auf die Briefe der Eidgenössischen Spielbankenkommission zu antworten. Was den Stiftungsrat des Genfer Stadions betrifft, den Hediger jahrelang präsidierte, so trat er überstürzt zurück, als man entdeckte, dass ein Loch von elf Millionen in der Kasse klaffte. Heute ist André Hediger immer noch Mitglied der städtischen Exekutive.

Auf der rechten Seite führte der Durchbruch der UDC bei den kantonalen Wahlen (zehn Sitze) zu einem Schock. Das Gros ihrer Truppen rekrutiert sie aus enttäuschten Stammwählern anderer Parteien und den ehemaligen Mitgliedern von Vigilance, einer rechtsbürgerlichen Bewegung der siebziger und achtziger Jahre. Obschon Vigilance 1985 im Grossen Rat 19 Sitze eroberte, blieb der Erfolg kurzlebig und auf Genf beschränkt. Die Etablierung der UDC am oberen Ende des Léman scheint hingegen auf Dauer angelegt zu sein. Zwar kann man nicht behaupten, dass ihr politisches Personal brillant sei, aber die Unterstützung aus der eidgenössischen Zentrale gibt ihr eine Breitenwirkung, die sie in Genf alleine nie erzielen könnte.

Innerhalb der Rechten herrscht deshalb nun Krieg aller gegen alle. Verschärft wird die Situation durch das Genfer Privileg, gleich über vier Rechtsparteien zu verfügen: die Christdemokraten, die Freisinnigen (Radicaux), die Liberalen und die UDC. Die beiden Erstgenannten kämpfen ums Überleben, während Letztere sich die Rolle der führenden Rechtspartei streitig machen. Erstmals ist es der UDC bei den eidgenössischen Wahlen gelungen, die Liberalen vom ersten Platz zu verdrängen: eine kleine Revolution. Als weiterer Dammbruch muss betrachtet werden, dass der Parti radical, der unter der Ägide von James Fazy das moderne Genf in der Mitte des 19. Jahrhunderts begründet hat, seit 2001 nicht mehr im Regierungsrat vertreten ist. Heute stellt sich die Frage, ob er die nächste Bewährungsprobe an der Urne überleben wird. Gewiss scheint nur, dass die Probleme auch durch das Verschwinden einer der vier Rechtsparteien nicht gelöst werden. Die Genfer UDC ist stark vom blocherschen Geist geprägt und könnte jetzt stagnieren. Verschwinden wird sie nicht. Die drei übrigen Rechtsformationen werden neue Kompromissformeln finden müssen. Bis anhin beschränken sich jedoch die Perspektiven für eine eventuelle Annäherung auf die Vorschläge der Arbeitsgruppe Colibri, die Konzepte für eine allfällige Allianz von Liberalen und Radikalen ausarbeitet. Allerdings scheint ein Zusammengehen desto unwahrscheinlicher, je näher das Datum der kantonalen Wahlen vom Herbst 2005 heranrückt.

Erdrückende Schuldenlast
Der Staat Genf geriet im letzten Juni an den Rand einer schweren institutionellen Krise. Beinahe hätte man ein Haushaltsjahr ohne Budget zubringen müssen. Für die Schweiz wäre dies eine Premiere gewesen. Der tiefgespaltene Regierungsrat benötigte mehr als sechs Monate, um ein nachgebessertes Budget vorzulegen, das von der Mehrheit des Kantonsparlaments jedoch im Dezember wiederum als zu verschwenderisch abgelehnt wurde. Schliesslich haben Regierung und Parlament knapp zehn Monate gebraucht, um das anfängliche Defizit des Haushaltsjahres 2004 von 550 auf 329 Millionen Franken zu reduzieren.

Es ist zweifelsohne der Aussicht auf die Grossratswahlen 2005 zu verdanken, dass die Parteien der rechten Mehrheit schliesslich ein immer noch stark defizitäres Budget genehmigten, aber die Probleme wurden nicht gelöst. Sie sind zunächst einmal finanztechnischer Natur. Der Kanton trägt eine Schuldenlast von zwölf Milliarden Franken, die nach Ansicht von Experten im Zeitraum der nächsten drei Jahre auf fünfzehn Milliarden steigen könnte, falls die Zinssätze nach oben gehen. Wenn man die Maastricht-Kriterien, welche die Verschuldung theoretisch auf maximal 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts begrenzen, auf Genf und seine kumulierten Rückstände anwenden würde, dann fände sich der Kanton unter den am schlechtesten klassierten europäischen Volkswirtschaften wieder. Auch nach der europäischen Osterweiterung.

In der heutigen Phase der Budget-Ungewissheiten surfen die Beamtengewerkschaften auf einer Welle der Angst. Um der Rechten und ihrem Sparprogramm entgegenzutreten, haben einige Lehrer vom Gewerkschaftsbund des öffentlichen Dienstes gar gedroht, den Schulbeginn nach den Sommerferien zu boykottieren. Wären diese Pläne konkreter geworden, hätten sich viele Genfer zutiefst geärgert, denn im Heimatkanton des grossen Pädagogen Piaget ist die Schule ein heikles Thema. Die Polizisten, die unter chronischem Personalmangel zu leiden haben, warteten ihrerseits seit über einem Jahr darauf, dass der Grosse Rat ein Polizeigesetz verabschiedet, welches ihre Gehaltsbedingungen verbessert. Das Gesetz wurde vor kurzem verabschiedet, doch gefällt es weder den Politikern noch den Polizisten. Letztere könnten jedoch versucht sein, vom angespannten sozialen Klima zu profitieren, um ihre Protestaktionen vom Oktober 2003 zu wiederholen. 600 zornige Polizisten im Streik haben damals einen Trauerzug organisiert und marschierten zum Rathaus mit einem Sarg, der den Tod der Ordnungskräfte symbolisieren sollte.

Trauma für die Bewohner
Für die Linke ist der Service public eine heilige Kuh, unantastbar, die während der Krise der neunziger Jahre schon genug gemolken worden war. Für die Rechte zeigt sich der öffentliche Dienst als Kaste von Privilegierten, die es in Frage zu stellen gilt. Das Ziel scheint allerdings schwer zu erreichen, wenn man bedenkt, dass Genf der einzige Kanton ist, der sein Beamtenstatut noch nicht revidiert hat. Als die Rechte vorschlug, Arbeitsverträge wie in der Privatwirtschaft und leistungsgekoppelte Gehälter einzuführen – Reformen, die in anderen Kantonen durchgeführt wurden –, gingen die Linke und die Gewerkschaften auf die Barrikaden. Momentan verharren beide Lager in einem Stellungskrieg. Der Soziologe Christophe Zimmermann, Co-Direktor des Umfrageinstitutes Erasm, liefert folgende Erklärung: «Die Genfer Mittelschicht hat den öffentlichen Dienst lange Zeit unterstützt und akzeptierte es, für den hohen Standard auch mehr bezahlen zu müssen. Heute gibt es eine Spaltung zwischen den Beamten und der Mittelschicht. Nicht ohne Grund. Die links-zentristische Strömung, die Genf lange dominiert hat, bricht zusammen. Die jetzige Linke verfügt über keine Reformkräfte mehr, und die gemässigte Rechte ist nicht fähig, ihr Programm zu erneuern und zu einer modernen Politik zu finden.»

Ein Ereignis hat das Genfer Unbehagen stark verschärft: der G-8-Gipfel im benachbarten Evian im Juni 2003. Die Genfer ärgerte, dass die Globalisierungsgegner in ihrer Stadt gegen den Gipfel der acht mächtigsten Staatschefs der Welt protestierten. Zahlreiche Ausschreitungen führten zur Verwüstung der Genfer Geschäftsviertel. Die Strassenschlachten, die den Einsatz deutscher Anti-Krawall-Einheiten nötig machten, wurden zu einem Trauma für die Stadtbewohner. Pierre Maudet bestätigt diesen Eindruck: «Die Ausschreitungen des G-8 wirkten auf Genf wie eine überraschende Grossaufnahme, und das Bild, das zum Vorschein kam, war nichts, womit die Bürger gerechnet hatten.» Obschon die Demonstrationen keine Todesopfer forderten, haben der Sachschaden von sechs Millionen Franken und die unerwartete Gewalttätigkeit mancher Jugendlicher einen Schock ausgelöst. In den ersten Tagen, die auf diese verrückte Juniwoche folgten, beteuerte die Genfer Polizei ununterbrochen, dass die Chaoten vorwiegend aus Bern und Zürich stammten. Die folgenden Abklärungen bewiesen jedoch, dass viele Genfer beteiligt waren.

Polizisten ausser Kontrolle
Der G-8-Gipfel hat die gesellschaftliche Veränderung Genfs ans Licht gebracht und zugleich die Feindseligkeit zwischen Linken und Rechten auf die Spitze getrieben. Letztere sind empört über die «Kapitulation des Rechtsstaats» und fordern eine Einschränkung des Demonstrationsrechts. Es geht in Richtung Nulltoleranz. Die Linke hingegen verteidigt mit Händen und Füssen ein Recht zur öffentlichen Kundgebung, das bei den Genfern sozusagen im genetischen Code festgeschrieben ist. Erst nach Monaten konnte der Dauerkonflikt zwischen der liberalen, sichtlich überforderten Justizministerin Micheline Spoerri und dem Sozialisten Charles Beer im Regierungsrat beigelegt werden. Beer ging als neu gewählter Vorstand des Erziehungsdepartements selber auf die Strasse, als die Zusammenstösse ausser Kontrolle zu geraten drohten, und versuchte, zwischen Polizei und Demonstranten zu vermitteln. Seine Initiative wirkte wie ein rüder Verstoss gegen das Kollegialitätsprinzip, doch er rechtfertigte seinen Einsatz mit der Notwendigkeit, in einer Situation, wo sie nicht mehr präsent zu sein schien, «die Staatsgewalt zu verkörpern».

Die grösste Systemschwäche der Genfer Institutionen, die der Gipfel in Evian ans Licht brachte, war jedoch eine andere. Während einiger Tage haben die politischen Instanzen die Kontrolle über die Polizei verloren. Sie hat offen rebelliert und den Regierungsrat herausgefordert. Der Präsident einer Polizeigewerkschaft schreckte nicht davor zurück zu erklären: «Jetzt sind wir es, die die Einsatzdoktrin definieren. Wir werden uns nicht mehr mit der Rolle der Blumendekoration zufrieden geben. Wir werden nichts mehr durchgehen lassen auf der Strasse.»

Das Entstehen eines Quasi-Staats im Staat wurde von zwei Faktoren begünstigt. Einerseits hat die Laxheit des letzten Justizvorstandes, Gérard Ramseyers, zur Entstehung diverser Clans innerhalb der Polizei geführt, andererseits zeichnet sich auch die politische Haltung von Micheline Spoerri, der jetzigen Chefin des Justiz- und Polizeidepartements, nur durch Linienlosigkeit aus. Auch auf andere Felder erstreckt sich der Clinch zwischen Politikern und Polizisten. Im Oktober 2003, am Eröffnungstag der internationalen Kommunikationsmesse Telecom World, hinderte die Genfer Polizei mit einem Bummelstreik den damaligen Bundespräsidenten Pascal Couchepin daran, pünktlich vor Ort zu sein und den spanischen König Juan Carlos als Ehrengast zu begrüssen. Man hätte sich das gerne erspart, denn Genf kämpfte damals gerade darum, die Telecom-Messe in der Stadt zu behalten. Die Mühe war vergebens. Jetzt zieht die grosse Messe nach Hongkong um.

Auch in sozialer Hinsicht hat Genf seine Eigenheiten gepflegt. Während langer Zeit war der Staat Genf das schweizerische Experimentierfeld für Soziales. Erst kürzlich haben die Genfer als Erste im Lande eine kantonale Mutterschaftsversicherung und den Konkubinatsvertrag für homosexuelle Paaare eingeführt. Angesichts des schweren Budgetdefizits, mit dem der Kanton heute zu kämpfen hat, scheint das «Genfer Sozialmodell» an seine Grenzen zu stossen – sowohl was die Ressourcen als auch was die Opferbereitschaft der Bürger anbelangt. Nach Einführung des neuen, auf das Bundesgesetz abgestimmten Steuerrechtes sind nun 23 Prozent der Steuerzahler, d.h. etwa 50000 Personen, von allen persönlichen Abgaben befreit. Martine Brunschwig Graf zeigt sich beunruhigt über diese Zahlen. Die Regierungsrätin ist der Ansicht, dass die Abgabenbefreiung den Steuerzahler von der Wahrung seiner grundlegendsten Bürgertugenden entbindet. Die liberale Finanzvorsteherin befürchtet, dass diese Situation zu Spannungen zwischen den Nutzniessern der Sozialleistungen und der aktiven, zahlenden Bevölkerung führen könnte.

Ausländer ohne Stimme
Genf, das jedes Jahr 6000 neue Bewohner aufnimmt, erscheint wie ein grosser Schmelztiegel. Seine Vielgestaltigkeit macht die Seele des Kantons aus, in dem 38 Prozent Ausländer leben (in der Stadt Genf sind es 44 Prozent). Jetzt allerdings legt der Stadtstaat eine neue Härte an den Tag. Während der Jura, Neuchâtel und Waadt den Ausländern das Gemeindestimmrecht gewährt haben, kann sich der Kanton Genf noch immer nicht dazu durchringen. Es entsteht der Eindruck, dass das Genfer Integrationsvermögen überschätzt wurde. Auch aussenpolitisch ist eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Im Hinblick auf die EU hat sich die Europabegeisterung der Genfer abgekühlt. Während 1992 noch 78,2 Prozent für den europäischen Wirtschaftsraum stimmten, waren im März 2001 nur noch 41 Prozent der Bürger für die Initiative «Ja zu Europa».

Der ewige Antagonismus zwischen der Stadt und dem Kanton Genf leistet einen substanziellen Beitrag zur Genfer Misere. Der Ursprung der Spannungen zwischen den beiden Gebietskörperschaften liegt weit zurück. Zu ernsthaften Verstimmungen ist es jedoch erst 1999 gekommen. Damals erfuhren die Genfer Gemeinderäte aufgrund einer Indiskretion aus der Presse, dass die Regierung dabei war, eine Fusion von Stadt und Kanton zu projektieren. Die schlechten Beziehungen haben verhängnisvolle Folgen. Ein Beispiel ist die Neugestaltung des Cornavin-Platzes beim Bahnhof. Der ehemalige Stadtpräsident und heutige Stadtrat Christian Ferrazino legte Anfang Juli Rekurs ein gegen das kantonale Departement des Innern, der Landwirtschaft und der Umwelt. Motiv der Einsprache: Ferrazino wünschte, dass der Platz eine Zone wird, «wo der Fussgänger König ist und wo die Geschwindigkeit der Autos auf 20 km/h beschränkt bleibt». Der Kanton aber hält an einer Zone mit Tempo 30 und Vorfahrtsrecht für Personenwagen fest. Das Gezänk, das nun kurz vor Abschluss der Bauarbeiten ausgebrochen ist, scheint unerheblich. Es erklärt jedoch, weshalb dieses Projekt, das zunächst auf 25 Millionen budgetiert war und dann in aller Heimlichkeit auf 6 Millionen eingedampft wurde, nach Ansicht der Benutzer ein stadtplanerischer Fehler ist. Weder Fussgänger noch Autofahrer sind mit dem neuen Bahnhofsplatz zufrieden. Auch sonst herrscht Rivalität: Als im Jahr 2002 mehrere zehntausend Schüler aus dem ganzen Kanton am Genfer Expo-Tag teilnahmen, wurde die Veranstaltung als «kantonale Angelegenheit» von der Stadtexekutive boykottiert.

Grenzstreit zwischen Stadt und Kanton
Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung erscheint die Rollenverteilung zwischen Stadt und Kanton als derart unangemessen, dass sie die Volksvertreter zu Verantwortungslosigkeit geradezu ermuntert. Während die Ressourcenknappheit immer dramatischer wird, verteidigt man weiterhin eine sehr beschränkte Auffassung des jeweiligen Zuständigkeitsbereichs. Bei der Projektierung des Genfer Stadions und des Messezentrums (Palexpo), das insbesondere auch den Automobil-Salon beherbergt, kam es sogar so weit, dass sich die Verantwortlichen in Spitzfindigkeiten über Grenzverläufe verloren. Weil die beiden grossen Bauvorhaben «nicht im strikten Sinne auf dem Gebiet der Gemeinde Genf liegen, obliegt es ihr nicht, sich finanziell zu beteiligen», erklärte Ferrazino kürzlich.

Dieselbe Attitüde widerspiegelt sich in der Rolle, welche in Genf die jeweiligen Bürgermeister glauben einnehmen zu müssen. Sie scheinen sich für die Entwicklung ihrer Agglomeration nur wenig zu interessieren. Kein Vergleich mit dem Einfluss, den die Bürgermeister von Lausanne und Fribourg, Daniel Brélaz und Dominique de Buman, in ihrem jeweiligen Einzugsgebiet ausgeübt haben. In Genf fühlt sich der Stadtpräsident aufgrund der Geschichte und der internationalen Aura als Träger einer grossen Mission, hauptsächlich dazu berufen, sich den grossen Fragen des Weltgeschehens zu widmen. Es ist sicherlich lobenswert, dass es Ferrazino gelungen ist, mit Senegals Präsidenten Wade ein Abkommen zur Schaffung eines informationstechnologischen Solidaritätsfonds zu schliessen. Beunruhigend scheint hingegen, dass der gleiche Ferrazino sich nie mit einer richtungweisenden Rede zur Region Genf hören lässt. Es scheint ihn nicht zu interessieren.

Auch zu Bern ist das Verhältnis kompliziert – um es vornehm auszudrücken. Einerseits beschwert man sich darüber, dass die Berner Beamten die Genfer Realitäten nie richtig verstehen. Man gefällt sich in der Rolle des Opfers der föderalistischen Entscheidungen. Andererseits ist es die mangelnde Präsenz auf Bundesebene, der Genf seine «Berner Niederlagen» zu verdanken hat. Ein Beispiel? Genf hat schon 1912 mit dem Bund eine Vereinbarung getroffen, wonach eine neue Eisenbahnstrecke den Bahnhof Cornavin mit Annemasse im benachbarten Frankreich hätte verbinden sollen, doch fast ein Jahrhundert lang hat der Kanton die Sache ruhen lassen. Ausgerechnet heute, wo die Bundesfinanzen in verzweifelter Lage sind, zeigt man sich plötzlich empört, von Bern «im Stich gelassen worden zu sein». Manchmal ringt sich Genf aber doch auch dazu durch, seine tiefe Verbundenheit mit der Schweiz unter Beweis zu stellen. Es war wohl kaum Zufall, dass der Genfer Tag an der Expo 02 zu den besten und kreativsten gehörte.

Einmalige Geschichte
Heute scheint Genf am Scheideweg zu stehen. Es ist denkbar, dass der Kanton sich in den institutionellen Blockaden verbeisst und sich die bisher guten Rahmenbedingungen verschlechtern werden. Die schwere Wohnungskrise ist für den Genfer Wirtschaftsstandort eine tickende Bombe. Die Polemik um den Ikea-Konzern, der fünf Jahre warten musste, bevor er endlich das Projekt einer Filiale in der Genfer Gemeinde Vernier verwirklichen konnte, ist als Warnung zu betrachten. Doch der Kanton kann ebenso gut sein fantastisches Potenzial als Wachstumsmotor der Region fruchtbar machen. Genf verfügt über grossartige Trümpfe: eine Wirtschaft, die dank der Banken und internationaler Konzerne wie Serono blüht, ein Flughafen, der sich nach der Aufgabe von Cointrin durch die Swissair 1996 gut gefangen hat, eine internationale Aura, die keine andere Agglomeration dieser Grösse für sich geltend machen kann. Dank der in starken Wachstumsphasen sehr dynamischen Fiskalpolitik verfügt der Staat Genf über finanzielle Ressourcen, um die andere Kantone ihn beneiden.

Genf, das der Soziologe Bernard Crettaz als beinahe «extraterritoriales» Gebilde beschreibt, hat im Übrigen auch eine einmalige Geschichte. Die Stadt beherbergte zu Beginn der zwanziger Jahre den Völkerbund. Heute ist das nur zwei Schritte vom See entfernte Palais Wilson der Sitz der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen. Einen Steinwurf davon befindet sich die Zentrale der WTO. Etwas weiter, gleich beim «Hotel Intercontinental», steht der Palais des Nations, der den europäischen Hauptsitz der Uno beherbergt. Die zahlreichen internationalen Organisationen steuern jährlich knapp 4 Milliarden Franken zum Genfer Wirtschaftsleben bei. Mit seiner kosmopolitischen Vielseitigkeit kann Genf eine wichtige Rolle spielen für die Eidgenossenschaft. Micheline Calmy-Rey ist sich als ehemalige Genfer Regierungsrätin dessen wohl bewusst. In ihrer jetzigen Funktion als Aussenministerin setzt sie sich dafür ein, dass das internationale Genf nicht zu einer schönen Reminiszenz wird, sondern dem ganzen Land zugute kommt.

Nur schon durch das schlichte Anderssein kann Genf einen Beitrag leisten, selbst wenn seine Besonderheiten gelegentlich bei den übrigen Eidgenossen auf Kritik stossen. Die waadtländischen Nachbarn zum Beispiel werden auch weiterhin den «grossmäuligen Angebern, die nichts belehren kann, die keine Autorität respektieren und denen es häufig an Schweizertum mangelt», den Kopf abschneiden wollen. Doch so ist eben das Genfer Paradox.

Aus dem Französischen von Daniel Binswanger und Markus Hediger

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