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Samstag, 24. August 2013

Genf - Juwel der Schweiz

Kantons-Serie (10): Genf - Juwel der Schweiz | Die Weltwoche, Ausgabe 20/2008


Kantons-Serie (10)

Genf - Juwel der Schweiz

Genf bringt der Schweiz die internationale Ausstrahlung, die sie sonst kaum hätte. Die Lebensqualität ist hervorragend. Dazu kommt aber auch eine Prise Provinzialität.
Von Max Frenkel
Französische Version / Version française

In Genf hat am 19.Februar der Frühling begonnen, in der übrigen Schweiz am 20.März. Seit 1818 gehört es zu den Aufgaben des kantonalen Grossweibels, das Aufbrechen der ersten Knospe am Staatskastanienbaum in der Nähe des Regierungsgebäudes und damit den offiziellen Frühlingsbeginn auf einer Holztafel im Staatsratssaal festzuhalten. Wenn auch die Uh-ren in Genf nicht anders ticken als in Zürich, so doch die Jahreszeiten und sonst noch das eine oder andere.

Republik und Kanton Genf, wie sich der Stadtstaat offiziell nennt, gehört erst seit 1814 zur Schweiz, war aber schon vorher mit einzelnen Orten verbündet und wäre eine schweizerische Exklave in Frankreich, gäbe es neben den etwa hundert Kilometern Landesgrenze nicht einen etwa vier Kilometer breiten Landkorridor zur Waadt. Dass Genf nicht zu Frankreich gehört, oder früher zu Savoyen, hat nicht zuletzt mit dem Calvinismus in einem katholischen Umfeld zu tun. Heute, und schon recht lange, hat allerdings das «calvinistische Rom» eine katholische Bevölkerungsmehrheit. Und dennoch prägen calvinistische Werte auch in der Gegenwart die Genfer Mentalität deutlich, selbst die der Katholiken. Der Staat allerdings sieht sich als streng laizistisch.

Kleiner Kanton, grosse Ausstrahlung
So klein der Kanton ist, so gross ist umgekehrt seine internationale Ausstrahlung. An deren Ursprung steht sicher einmal der genannte Calvinismus. Aber dann kam die vom Genfer Patriziat geleistete Pioniertat des Roten Kreuzes hinzu, dessen Internationales Komitee hier seinen Sitz hat und das auf der obersten Ebene nur aus Schweizer Bürgern besteht. Es ist auch heute noch die für das Genfer – aber auch für das schweizerische – Prestige bedeutendste Organisation in Genf. Kein Wunder, dass es mit einer so auf Medientermine erpichten Bundespolitikerin wie der gegenwärtigen Aussenministerin immer wieder zu kleineren Friktionen kommt, wenn sie versucht, Mitarbeiter des IKRK für Auftritte zu vereinnahmen oder dieses mit Initiativen auch dort zu «unterstützen», wo die Organisation lieber auf die eigene Diplomatie vertraut (wie zum Beispiel in der Frage des neuen Rot-Kreuz-Emblems oder bei angeblich humanitären Interven­tionen in internationalen Konflikten).

Der Ruf der Stadt und die machtpolitische Ungefährlichkeit der Schweiz machten Genf zu einem beliebten Tagungsort für internationale Konferenzen (heute sind es deren etwa 8000 pro Jahr), und es war nur logisch, dass der Völkerbund der damals noch eurozentrischen Welt sein Hauptquartier in Genf errichtete. Das wiederum führte nach dem Zweiten Weltkrieg zur Ansiedelung des europäischen Sitzes der Vereinten Nationen und mit ihm vieler internationaler Organisationen in dieser Stadt. Von der Uno bis zur Weltpfadfinderorganisation sind es 512. Mit 19 von ihnen hat die Schweiz ein Sitzabkommen geschlossen, das ihnen Exterritorialität und Steuerbefreiung verschafft. Genf wurde damit zur wohl internationalsten Stadt der Welt, mehr noch als New York, das vor allem einmal eine amerikanische Metropole ist. Der Standortwettbewerb ist allerdings auch hier härter geworden, und das zukünftige Wachstum dürfte sich deutlich verlangsamen.

Etwas weniger bewundernswert – je nach Standort natürlich: Nichtregierungsorganisationen und die Linke haben grosse Freude daran – ist eine gewisse Tendenz der politischen Behörden von Stadt und Kanton, das Geschehen in der Welt mit Zensuren zu versehen, obschon das, wenn überhaupt, zu den Prärogativen des Bundes gehören würde. Genf steht hier unter den Kantonen und Städten nicht ganz allein; aber es ist besonders aktiv. Und so erlassen denn die verschiedenen Räte – die der Stadt noch mehr als jene des Kantons – mit Lust und Eifer, wenn auch etwas provinziell, Resolutio­nen und Aufrufe zu Dingen wie dem Völkermord an den Armeniern, den Irakkriegen, dem Geschehen im Nahen Osten und so weiter.

Wie jede Medaille hat auch die Internationalität zwei Seiten. Auf der einen wuchert eine globale, nicht überaus effiziente Bürokratie, die wenig Verbindung mit dem bürgerlichen Leben in der Stadt hat, dieses jedoch infrastruktur­mässig stark belastet und erst noch keine Steuern zahlt. Auf der andern Seite steht die internationale Ausstrahlung mit ihrer Aufwertung des Standortes Schweiz. Die Wirtschaft Genfs profitiert ebenfalls von der internationalen Klientel, und viele ausländische Unternehmen lassen sich in der Nähe von für sie wichtigen Entscheidungszentren nieder, aber auch etwa in der Nähe des Forschungszentrums Cern.

Was dem Aussenstehenden bald einmal auffällt, ist die Schichtung der Genfer Bevölkerung, die nur wenig durchlässig ist. Da sind einmal die «normalen» Genfer, die den Alltag ausmachen und aus Ansässigen, Grenzgängern und den besonders vielen Asylanten bestehen. Vor allem Erstere stehen den ihr eigenes Leben lebenden «Internationalen» recht kritisch gegenüber, so kritisch, dass der spätere Staats­sekretär Franz Blankart einmal in einer departementsinternen Studie tongue in cheek vorschlug, das Problem mit einer noch zu erfindenden Methode kollektiver Psychoanalyse anzugehen. Mit beiden Gruppen hat das Patriziat der alteingesessenen Genfer, der Pictet, de la Rive, de Saussure, Mirabaud, Duboule usw., wenig Kontakt. Man bleibt unter sich und sieht sich als staatstragende Schicht der Republik, die, wie etwa der Basler Daig und die Berner Burger, nach aussen bescheiden auftritt, ein besonders gepflegtes Französisch spricht und sich nicht nur in den Privatbanken, sondern auch in staatsbürgerlichen Aktivitäten engagiert. Hier haben auch die ebenfalls unter ihres­gleichen lebenden «Internationalen» und die Oligarchen nur oberflächlichen Zugang.

Eine relativ neue Erscheinung ist der Zustrom immens reicher Araber und Osteuro­päer. Ihr Kontakt mit dem Genfer Alltag ist noch geringer als jener der «Internationalen». Sie beleben den Markt für Luxusgüter, aber auch den für bessere Immobilien, wo die Liegenschafts- und Mietpreise für Genfer bald unerschwingliche Höhen erreichen.
Im Vergleich mit deutschschweizerischen Zentren ist Genf eher ein Kanton der Individua­listen, der freien Berufe und der kleineren Unternehmen. Es fällt jedenfalls auf, dass dieses Zentrum des Privatbankentums (drei Viertel der Arbeitsplätze der Schweizer Privatbanken liegen in Genf) keine Grossbank hervorgebracht hat, damit aber auch nicht der Grossmannssucht dieser Bankenkategorie verfiel. Viele Hauptsitze von hier ansässigen Unternehmen liegen denn auch in der deutschen Schweiz. Welsche Spitzenmanager Deutschschweizer Firmen (Marc Moret, Philippe de Weck) erklärten mir das einmal unter anderem mit der geringeren Attraktivität wirtschaftlicher Studienrichtungen für welsche Studenten.

Wenig Liebe zur Waadt
Die Qualität der Beziehungen der Republik zu den andern Kantonen ist unterschiedlich. Mit der viel grösseren Waadt verbindet sie zwar vier Kilometer Landgrenze, aber nur wenig Zuneigung. Als einmal ein in Lausanne abgewählter Staatsrat (in der deutschen Schweiz Regierungsrat geheissen) seinen Kanton mit zwei Initiativen zur Fusion mit Genf abstrafen wollte, waren wenige Aussenstehende überrascht, dass das 2002 hier wie dort mit überwältigenden Mehrheiten abgelehnt wurde. Wenn schon, haben die Genfer mehr Sympathien für das Wallis als für das Waadtland, dem sie vorwerfen, Steuerfluchtort für Gutverdienende zu sein, und das den eleganten Städtern als gar bäuerisch erscheint. Als ich einmal – das war 1989 – bei einer Pressekonferenz des heute verschwundenen «Mouvement Genève Libre» darauf hinwies, dass nicht nur Deutschschweizer das Land an Ministertreffen mit Nachbarländern zu vertreten pflegten, sondern auch zum Beispiel Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz, erhielt ich die Antwort, Delamuraz gehöre als Waadtländer eben zum einzigen deutschschweizerischen Stamm französischer Zunge.

Damals waren mehr oder weniger ständige und bösartige Sticheleien gegen die deutsche Schweiz und insbesondere gegen Zürich in Genf noch recht häufig zu hören. Ja, sie gehörten zum Katechismus der von Jacques Pilet übermässig dominierten Medien am Léman. Heute, nach dem 2001er Marignano der geradezu fundamentalistischen EU-Euphorie der welschen Presse bei der für sie niederschmetternden Ablehnung der Beitrittsinitiative in sämtlichen, auch französischsprachigen Kantonen, ist das Verhältnis Genfs zur deutschen Schweiz entspannter. Selbst wenn die Zürcher Arroganz, den eigenen Standpunkt ganz selbstverständlich immer wieder als den schweizerischen zu sehen, nach wie vor Zähneknirschen hervorruft. Aber das gilt schliesslich für 25 der 26 Kantone.

Von der Absicht gar, die Schweiz zu verlassen – sie fand in Genf über einige Sektierer hinaus nie wirklich Widerhall – und sich Frank­reich anzuschliessen oder als eine Art Freistaat zu konstituieren, ist nichts mehr zu hören. Heute sind es, wie fast überall sonst, die Probleme mit dem Zuzug wirklicher und vor allem angeblicher Asylanten, welche die Bevölkerung beschäftigen. Zwar war und ist Genf stolz auf seine im Vergleich mit der deutschen Schweiz vermeintlich «liberalere» Praxis im Umgang mit diesem Phänomen. Jetzt, wo der Zustrom nicht mehr nur aus frankofonen Ländern kommt, sondern vermehrt aus dem Balkan, verunsichert das die Bevölkerung aber auch hier.

Spitzenverschuldung
Unter dem Strich profitiert der Bund auch finanziell von Genf (wenn man korrekterweise davon ausgeht, dass die Bundesbeiträge an die internationalen Institutionen eben eine schweizerische und nicht eine kantonale Sache sind). Dieses zahlt, nach Zürich, am zweitmeisten in den Finanzausgleichstopf ein. Aber der Schein des Reichtums ist etwas trügerisch. Denn dem einzelnen Haushalt verbleibt, wie auch im Stadtkanton Basel, im interkantonalen Vergleich am wenigsten Geld zur freien Ausgabe: Mietzinsen, Krankenversicherung und Steuern belasten die Privathaushalte überdurchschnittlich. Und Genf steht «dank» einer lockeren Ausgabendisziplin mit 13,171 Milliarden Franken bei der Verschuldung an der Spitze der Schweizer Kantone, Tendenz steigend. Der Stadtstaat gibt pro Einwohner ziemlich genau doppelt so viel aus wie der Aargau. Als Micheline Calmy-Rey sich 2002 um die Wahl in den Bundesrat bewarb, rühmte sie sich ihrer Sparerfolge als Genfer Finanzministerin. Es war das eine Fata Morgana, die von den eidgenössischen Parlamentariern aus Genf aber erst nach der Wahl aufgedeckt wurde.

Überhaupt Calmy-Rey: Sie, die in Genf nach einer Comicfigur und wegen ihres stereotypen Lachens Cruella genannt wird, kann im Kanton zwar ebenfalls auf einige Sympathie zählen. Aber sie ist in der übrigen Schweiz deutlich beliebter als zu Hause. Als Staatsrätin musste sie sich viel zurückhaltender geben als jetzt auf der Berner Bühne. Noch deutlicher trifft die Diskrepanz auf den Politclown Jean Ziegler zu, dessen Nominierung durch die Schweiz als Berater des Uno-Menschenrechtsrates hier von vielen mit Kopfschütteln betrachtet wurde.

Die hohen Staatsausgaben haben nicht zuletzt mit dem aufgeblähten Beamtenapparat zu tun, den sich Genf leistet. Er ist im Verhältnis zur Einwohnerzahl der grösste der Schweiz und zählt fast das Doppelte des Landesdurchschnitts. Zum Teil hat das natürlich mit der Besonderheit eines Stadtstaates zu tun. Aber ein wesentliches Element sind auch die vielen Doppelspurigkeiten zwischen Kanton und Stadt Genf. Das relativ weit gediehene Projekt zur Erarbeitung einer neuen Kantonsverfassung will hier Abhilfe schaffen. Man darf gespannt sein, sollte die Erwartungen allerdings nicht allzu hoch schrauben. Denn die Gewerkschaften der öffentlichen Hand haben, bis hin zu jener der Polizei, die Politik im eisernen Griff.

Die in der deutschen Schweiz weitverbreitete Meinung, Kanton und Stadt Genf seien deckungsgleich, ist falsch. Neben der Stadt gibt es noch 44 weitere Gemeinden mit 401 (Gy) bis 31824 Einwohnern (Vernier). Und auch die Meinung, Genf bestehe vornehmlich aus Asphalt, ist ein Irrtum. 45,7 Prozent des Kantonsterritoriums sind Landwirtschaftsfläche, wozu noch weitere 27,2 Prozent unüberbaubares Gebiet (inklusive See) kommen. Genf ist auch, was wenige wissen, nach dem Wallis und der Waadt mit 1281 Hektaren oder 23 Prozent des Kantonsgebiets das drittgrösste Weinbaugebiet des Landes.

Politisch ist Genf lebhaft, wenn auch nicht sehr effizient. Der Grosse Rat hat, eben wegen des ländlichen Charakters grosser Teile des Kantons, nach wie vor eine bürgerliche Mehrheit (23 Liberale, 12 Freisinnige – Radikale –, 12 Christdemokraten, 11 SVP und 9 Mouvement Citoyens genevois, eine rechtspopulistische Gruppierung). Diesen 67 mehr oder weniger Bürgerlichen stehen 33 Linke gegenüber (17 Sozialisten und 16 Grüne). In der Regierung hingegen, wo – schweizweit ein Unikum – ein «absolutes Mehr» von einem Drittel im ersten Wahlgang gilt, ist das Verhältnis umgekehrt:4 Linke und 3 Bürgerliche. Der Ausstoss des Ganzen ist weniger bürgerlich-liberal als etatis­tisch, was in den Budgetzahlen zum Ausdruck kommt. In der Stadt ist die Parteiverteilung deutlich linkslastiger: 42 Linken stehen im Conseil municipal 38 Bürgerliche gegenüber, im Conseil administratif sind es 4 Linke und 1Bürgerlicher. Im Nationalrat verteilen sich die 11 Mandate etwa gleichmässig auf rechts (6) und links (5); im Ständerat sind beide in linken Händen. Eine eigentliche politische Presse gibt es auch in Genf nicht mehr; von der politischen Welt besonders beachtet werden hingegen die täglichen dreissig Minuten «Genève à chaud», eine Diskussionssendung des Fernsehsenders Léman Bleu.
Die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der Kantonsregierung sind zurzeit relativ harmonisch, besser jedenfalls als unter dem von der ganzen Schweiz beobachteten Experiment eines rein bürgerlichen Regimes von 1993 bis 1997, dessen Mitglieder sich vor allem mit Hahnenkämpfen gegenseitig blockierten. So beurteilt die Situation Martine Brunschwig Graf, liberale Nationalrätin und früheres Staatsratsmitglied.

In Genf lässt es sich gut leben, wenn man es sich leisten kann. Eine Studie der Mercer Human Resource Consulting schreibt der Stadt die weltweit zweithöchste Lebensqualität zu (nur Zürcher müssen einen kleinen Abstrich machen). Tatsächlich findet man hier alles, was man braucht und sich wünschen möchte: von einer wunderschönen Landschaft bis hin zur raschen Erreichbarkeit der ganzen Welt vom Flughafen Cointrin aus und von Paris mit dem TGV in dreieinhalb Stunden. Das kulturelle Angebot ist breit, selbst wenn böse Zungen behaupten, die Theater Lausannes hätten den gewerkschaftsdominierten von Genf den Rang abgelaufen. Das öffentliche Verkehrssystem ist gut. Die Cafés und Bistros haben Stil und sind noch nicht von Dönerbuden und Pizzerien überwuchert. Und eben: In Genf gibt’s auch den längsten Frühling der Welt.

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